
In seinem letzten Werk («Brilliant Green», Michael Pollan, 2015) präzisiert Stefano Mancuso Folgendes: «Die jüngsten Studien der Pflanzenwelt haben gezeigt, dass Pflanzen sensibel sind (und somit über Sinne verfügen), dass sie kommunizieren (untereinander und mit Tieren), schlafen, sich erinnern und sogar andere Arten manipulieren können. Sie können als intelligent bezeichnet werden ».
Der Experte für die Signale und das Verhalten von Pflanzen fügt ausserdem hinzu: « Pflanzen haben keine Neuronen und kein Gehirn, das ist eine Tatsache, es bedeutet allerdings nicht, dass sie nicht berechnen, lernen, sich Dinge merken oder empfinden können. Ein derart raffiniertes Verhalten kann man nur als intelligent bezeichnen ».
Das Erinnerungsvermögen ist fester Bestandteil der Intelligenz der Pflanzen, deren Konturen die verschiedenen Experten zu umreissen versuchen.
Erinnerungs- und Lernvermögen
Was versteht man unter Gedächtnis? Laut dem emeritierten Professor Michel Thellier an der Universität von Rouen ist es die «Fähigkeit, ein Signal eine gewisse Zeit lang zu speichern, und – in manchen Fällen – mithilfe eines anderen Signals abzurufen».
Die Blätter der Mimose (Mimosa pudica L.) ziehen sich bei Berührungen oder wenn die Pflanze im Topf abrupt hochgehoben wird unmittelbar zurück. Falls der Topf wiederholt bewegt wird, reagieren die Blätter weniger stark und irgendwann gar nicht mehr, die Pflanze schliesst ihre Blätter jedoch weiterhin, wenn man sie berührt. Die Mimose merkt sich, dass das Hochheben nicht gefährlich ist. Es wurde festgestellt, dass sie diese Information circa 40 Tage speichert [Gagliano 2014].
Wenn sich die Äste der Zitterpappel (Populus tremula L.) durch kräftigen Wind biegen, wird nach 30 Minuten als Reaktion auf den produzierten Stress ein bislang inaktives Gen exprimiert. Wenn der Wind die Äste erneut mehrere Tage in Folge biegt, wird das Gen fast eine Woche lang nicht mehr exprimiert. Der Baum merkt sich, dass der Wind sein Überleben nicht bedroht. Es handelt sich um ein Gewöhnungsphänomen [Martin 2010].
Im Gegensatz zu uns merken sich Pflanzen keine Fakten wie Umweltreize (Kälte, Insektenstich), sondern die erforderlichen Reaktionen (Produktion von Tanninen, Zusammenrollen der Blätter …).
Frantisek Baluska von der Universität Bonn (Deutschland), neben S. Mancuso Mitbegründer der «Society of Plants Signaling and Behaviour» (Gesellschaft für die Signale und das Verhalten von Pflanzen), unterstreicht, «dass die wichtigste Erkenntnis darin besteht, dass die meisten Moleküle, die für die Kommunikation und die neuronale Aktivität im menschlichen Gehirn verantwortlich sind, auch bei Pflanzen vorhanden sind, mit sehr ähnlichen Funktionsweisen. Der Prozess ist sehr ähnlich und impliziert auf gewisse Weise, dass auch Pflanzen über Informations-, Gedächtnis, Entscheidungs- und Problemlösungsprozesse verfügen».
Francis HALLÉ informiert Gärtner, dass es sich jedoch nicht um ein «Gedächtnis oder einen Lernprozess handelt, der mit unserem vergleichbar ist. Eine Pflanze, die nur selten gegossen wird, gewöhnt sich beispielsweise daran, mit wenig Wasser auszukommen, sie «erinnert» sich. Wenn man sie allerdings erst sehr häufig und dann plötzlich nicht mehr giesst, stirbt sie. Denn auch Pflanzen werden von den Dingen geprägt, die ihnen in der Vergangenheit widerfahren sind ».
Dieses Gedächtnis wird im Allgemeinen durch die Expression eines bis dahin inaktiven Gens aktiviert. «Gene können chemisch durch Umweltfaktoren wie Stress verändert werden. Diese epigenetischen Änderungen können in manchen Fällen an die nächste Generation weitergegeben werden. Diese Sensibilität des Genoms ist überraschend und wir beginnen erst, die Reichweite der epigenetischen Kontrolle der Entwicklung der Pflanze zu erforschen», erklärt Lincoln Taiz, emeritierter Professor an der Universität von Kalifornien.
Wo befindet sich das «Gehirn der Pflanzen» ?
S. MANCUSO hat beobachtet, dass «Pflanzen in der Lage sind, elektrische Signale zu erzeugen und an alle Zellen in ihrem Körper auszusenden. Unter diesem Blickwinkel handelt es sich um eine Art diffuses Gehirn, während bei Tieren alles in einem einzigen Organ konzentriert ist ».
Wie Charles Darwin, der 1880 in seinem Werk «Das Bewegungsvermögen der Pflanzen» die Aktion der Wurzeln mit jener des tierischen Gehirns verglich, konzentrierten die Anhänger der Neurobiologie ihre Studien oft auf die Wurzeln [Baluska 2009].
Autoren privilegieren in der Tat das Wurzelsystem, das bedeutende elektrische (elektrische Ströme) und chemische Aktivität aufweist, beziehungsweise eine nur einen bis mehrere Millimeter grosse Zone an der Spitze jeder Wurzelfaser, die «Übergangszone» genannt wird [Baluska 2004]. An den «für Umweltreize hochempfindlichen» [Baluska 2013] Wurzelspitzen könnte die Integration der zahlreichen erhaltenen Informationen stattfinden. Bereits C. Darwin schrieb, dass «die Spitze einer Wurzelfaser als Gehirn der niederen Tiere agiert». Die Integrationszentren aller Wurzeln sind miteinander verbunden (weil alle Wurzeln zusammenlaufen), sie funktionieren als Netzwerk. Obwohl sie rudimentär beschaffen und klein sind, könnte ihre grosse Anzahl (Millionen) es ihnen ermöglichen, als dezentralisiertes Gehirn zu agieren.
Auf die Skepsis eines Teils der wissenschaftlichen Gemeinschaft antworten die Verfechter der Neurobiologie mit dem Verweis auf die Situation vor fast einhundert Jahren. Sie gehen davon aus, dass «es nur eine Frage der Zeit ist. Wie damals, als Pflanzenbiologen begannen, von Hormonen zu sprechen. Die Tatsache, dass Pflanzen Hormone haben, war einst undenkbar und ist heute dennoch erwiesen».
Die Dokumentation «L’esprit des plantes»» (52 Min.), die 2012 auf ARTE ausgestrahlt wurde, beschäftigt sich eingehender mit dem Thema.
Didier GUÉDON, Experte im französischen Ausschuss für die Pharmakopöe
Bibliographie :
Alpi A, Amrhein N, Bertl A, Blatt MR, Blumwald E, Cervone F et al. Plant neurobiology: no brain, no gain? Trends Plant Sci 2007;12:135-6.
Baluska F, Mancuso S, Volkmann D, Barlow P. Root apices as plant command centers: the unique “brain-like” status of the root apex transition zone. Biologia, Bratislava 2004;59(suppl.):1-13.
Baluska F, Mancuso S, Volkmann D, Barlow P. The "root-brain" hypopthesis of Charles and Francis Darwin. Plant Signal Behav 2009;4:1121-7.
Baluska F, Mancuso S. Root apex zone as oscillatory zone. Front Plant Sci 2013;4:e354.
Gagliano M, Renton M, Depczynski M, Mancuso S. Experience teaches plants to learn faster and forget slower in environments where it matters. Oecologia 2014;175:63-72.
Martin L, Leblanc-Fournier N, Julien JL, Moulia B, Coutand C. Acclimation kinetics of physiological and molecular responses of plants to multiple mechanical loadings. J Exp Bot 2010;61:2403-12.